„Umbau bei laufendem Betrieb“ Zwei bundesweite Konferenzen zur Kirchenentwicklung im Vergleich
Dass ein Dreijähriger seinen Geburtstag mit 450 Gästen feiert, die extra aus dem ganzen Bundesgebiet bzw. der Schweiz und Österreich anreisen und durch die Bank weg Jahrzehnte älter sind als er, ist schon reichlich ungewöhnlich. Aber es ist eben kein gewöhnlicher Dreijähriger, sondern das ZAP (Zentrum für angewandte Pastoralforschung) in Bochum, das anlässlich seines dreijährigen Bestehens zum Kongress „Für eine Kirche, die Platz macht“ geladen hat.
Und wenn schon gerade die Verwandtschaft versammelt ist, verkünden die stolzen „Eltern“ auch gleich zu Beginn der zweitägigen Feierlichkeit, dass bereits ein Geschwisterchen unterwegs ist, das im April zur Welt kommen wird und „ZAP Freiburg“ heißen soll. Dieser zweite ZAP-Standort wird dann von Juniorprofessor Dr. Bernhard Spielberg geleitet.
To be ZAPped: einen Energiestoß verpasst bekommen!
Doch erst einmal geht ZAP-Gründungs-Vater Prof. Dr. Matthias Sellmann in seinem einleitenden Impuls-Referat mit der Geburtstags-Schar auf einen gedanklichen und höchst inspirierenden „SpielPLATZ“, um das Programm einer raumgebenden Pastoral zu beleuchten:
Die derzeit am weitesten verbreitete „Kinderkrankheit“ der verfassten Kirche: Die kränkende Erfahrung, viel mehr Platz zu haben, als ihr lieb ist, in vielen gesellschaftlichen Bereichen Platz machen und liebgewordene Komfortzonen verlassen zu müssen: „Früher bauten wir die Kathedralen, wo alle hingingen und staunten – heute machen das Banken oder Fußballvereine. Früher haben wir die Plätze angewiesen – heute sitzen wir nur noch am Katzentisch der Gegenwartskultur. Früher ließ sich unter dem Krummstab des Bischofs gut leben – heute arbeitet man sich kirchlich zwar immer noch krumm, das echte Leben aber scheint woanders stattzufinden“, diagnostiziert der Pastoraltheologe.
Wirkungsvolle Medizin könnte in einer veränderten theologischen Deutung des Raumes liegen, die sich von der Soziologie und dem Gedanken des spatial turn anregen lässt. „Eine Kirche, die Platz macht, ist eine, die nicht mehr den umgebenden Raum auf sich bezieht, sondern sich auf den Raum“. So könne sie neue Relevanz und neue Wachstumsmöglichkeiten gewinnen, Platz für Talente und Potenzialentfaltung machen. Denn – wie es bei Knut Wenzel heißt: „Die Welt ist das Wofür der Kirche“.
In einem dahingehend veränderten Raumverständnis wäre es, so Sellmann, dann nicht die erste Aufgabe von Kirche, Christen zu erzeugen, sondern Bürger. „Die Taufe ist dann nicht die Eintrittskarte in eine Gemeinde, sondern in eine religiös gedeutete Welt. Das Kirchenjahr ist dann keine Ansammlung von zu bewahrender Folklore, sondern ein Vorschlag für lebensklug fundiertes Zeitmanagement. Das „Wort zum Sonntag“ ist dann keine trotzige Selbstbehauptung der Kirchen in den Programmblöcken der öffentlich-rechtlichen Sender, sondern eine augenzwinkernd genutzte Chance, auf den eigenen reich bespielten youtube-Kanal hinzuweisen.“
Eine solche Platz machende Kirche, so die These Sellmanns, wird gebildet aus Menschen, die höflich und großzügig sind. Wobei das Wort „höflich“ von Hof, engl. polite kommt und auf die Polis verweist, während das Wort „großzügig“ große Züge, ausgreifende Landschaften, weitreichende Wirkung assoziiert. „Höfliche Leute gewähren anderen um sich herum Raum; großzügige Leute haben Spaß an der Entfaltung der anderen“, so Sellmann, der abschließend prognostiziert, dass eine solche Kirche davon erzählt, „dass wer so lebt, einen Rückenwind erfährt, den die Kirche Gott nennt und der aber auch jeden schiebt, der diesen Namen nicht zu nennen wagt.“
Also: Ärmel hochkrempeln und los! Allerdings geht ein solcher Kirchenumbau deutlich über den Rahmen üblicher halbherziger und oberflächlicher Ausbesserungs- und Reparaturarbeiten hinaus und erfordert spezielles Werkzeug, konzeptionell wie operativ. An diesen Ausrüstungsgegenständen haben die ZAP Mitarbeitenden in den vergangenen drei Jahren experimentiert und präsentieren den aktuellen Stand in Form von neun verschiedenen „Baukästen“(workshops).
Baustelle Kirche: betreten erwünscht!
Da geht es dann um ein verändertes Verständnis von Führungs- und Leitungskompetenz und die Fragestellung, wie neue Handlungs- und Freiheitsräume ermöglicht werden können ebenso wie um Urbanes Performing oder netzwerkbasierte Kirchenentwicklung. Die These, dass die Arbeit mit und an Pastoralkonzepten meist zu einem gelungenen Anpassungslernen führt, weniger zu einem notwendigen Veränderungslernen, wirft die Frage nach Steuerungs- und Messinstrumenten auf, um kirchliche Lernprozesse zu fördern. Der Charismenförderung und Ermöglichung von Partizipation haben sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter ebenso gewidmet wie der Notwendigkeit für die Kirche, an ihrer Verkündigungskompetenz zu arbeiten und sich dabei auch bewusst von Filmproduzenten, Regisseuren und Poetry Slammern inspirieren zu lassen. Mithilfe einer eigens entwickelten „Lebensführungstypologie“ wird deutlich, dass die derzeitige verfasste Kirche nur einen Bruchteil der Menschen, die das gesellschaftliche Leben gestalten, nämlich vor allem „Statusorientiert-Bürgerliche“ und „Solide Konventionelle“ erreicht. Genau auf diese kleine Gruppe zielen auch die aktuellen Pastoralpläne, ohne sich für andere Gruppen zu öffnen. „Wir reden immer noch von ‚uns‘ und ‚denen‘, die nicht zur klassischen Gemeinde gehören – da steckt die Mausefalle“, so Dr. Marius Stelter, zuständiger „Werkzeugmacher“ für diesen Baukasten. Die Bedeutung von Kommunikationsräumen in digitalen Kulturwelten wird ebenso unter die Lupe genommen, wie die Notwendigkeit, pastorale Start-Ups und Innovationsprojekte zu gründen, damit die pastorale Vision erfolgreich Realität werden kann. Echte Kärnerarbeit, oder –wie Thomas Edison es mal formuliert hat: „Innovation ist 1% Inspiration und 99% Transpiration.“
Die verschiedenen Baukästen und Werkzeuge werden schließlich im Rahmen einer Agora (zentraler Marktplatz einer Stadt im antiken Griechenland) allen zur Verfügung gestellt und laden ein zu Anregung und Austausch, Diskurs und Debatte, These und Antithese, Kontakten und Kontrakten.
Doch das Wichtigste steht noch bevor: den „Umbau bei laufendem Betrieb“ mit diesem hochqualitativen Werkzeug im Gepäck und einer gesunden Prise Pioniergeist und Experimentierfreude ausgestattet auch wirklich anzugehen. Engagiert. Couragiert. Konsequent.
Szenenwechsel
Pioniergeist und Experimentierfreude schlagen einem dann auch direkt beim Betreten des Austragungsortes für „W@nder - Eine Konferenz für Pioniere“ entgegen, die zufällig direkt im Anschluss an den ZAP-Kongress in Hannover stattfindet und vom ökumenischen Projektbüro Kirche² organisiert wird. Zielperspektive auch hier: Kirchenentwicklung. Und doch ganz anders, irgendwie. Die Location: eine alte Eisfabrik in der Südstadt, in der neben Ausstellungshallen auch Theatersäle, Musikübungsräume, Tonstudios und Künstlerateliers untergebracht sind. Genau der richtige Rahmen, um von einer anderen Kirche zu träumen.
„Die Konferenz richtet sich an alle, die dieses seltsame Gefühl kennen: Sie gehören zur Kirche und doch fühlen sie sich in ihr fremd, ecken an“, erklärt Maria Herrmann, eine der Initiatorinnen. „Loyale Radikale“, gewissermaßen. So scheint es vielen zu gehen, denn bereits binnen kürzester Zeit, noch bevor eine richtige Ausschreibung raus geht, ist die Konferenz mit 120 Teilnehmern komplett ausgebucht. Das Publikum hier: bunt gemischt, deutlich jünger und wesentlich Internet-affiner: an allen Ecken und Kanten wird getwittert, was das Zeug hält.
Wanderer zwischen den Welten
Dieses Gefühl des Fremdseins, sei ein riesiges Potential, das gefördert werden müsse, denn „das, was diese Menschen innerhalb der Kirche als fremd empfinden, ist vielleicht das, was die Menschen außerhalb an Kirche gar nicht mehr verstehen“, so Maria Herrmann.
Und weil viele sich als Wanderer zwischen den eigenen Lebenswelten und kirchlichen Kontexten empfinden, ist die Konferenz treffend mit „W@nder“ überschreiben, einem Kunstwort, das das WANDERN und WUNDERN enthält. Und so spielt die gesamte Konferenz mit dieser Terminologie. Das Konferenzprogramm kommt als W@nderführer daher, die verschiedenen Tagungsräume werden als „Gletscher“, „Hütte“, „Hochebene“ und „Schlucht“ bezeichnet, der thematische Einstieg in die Konferenz wird als „Abmarsch“ betitelt, die beiden Grundsatzvorträge sind „geführte Wanderungen“, die Gelegenheiten zum Austausch „Seilschaften“ und die Workshops werden „Route 1“ und „Route 2“ genannt. Wichtiger Grundduktus dieser Tagung: sie soll Züge eines Barcamps tragen, bei dem die Teilnehmer selbst den Verlauf bestimmen können.
Pionier sein heißt: nicht auf den Zug warten, der nicht mehr kommen wird
Wichtige Impulse zum Gefühl der Fremde in der Kirche liefert Jonny Baker, Direktor der Missional Pioneer Ausbildung in Oxford in seinem Grundsatzreferat. Er spricht von „the gift of not fitting in“, dem Geschenk, nicht hineinzupassen und bezeichnet einen Pionier als jemanden, der die Welt anders sieht, anders denkt, anders redet, anders handelt. Er weist auf die Bedeutung der Inkulturation hin (was treibt die anderen Menschen an? Was ist der Kontext und was der goldene Kern?) und fordert dazu auf, ganz bei sich selbst zu sein und die eigenen Talente einzubringen, denn „die Gabe Gottes für dich ist eine andere als für die anderen“. Er ermutigt dazu, an die Ränder zu gehen und Grenzen zu überschreiten. Grundvoraussetzung dafür sei aber, immer wieder unsere Zweisprachigkeit zu üben, d.h. mit den Leute in der Kirche sowie den Menschen außerhalb der Kirche reden zu können. Und er legt den Finger in die Wunde, wenn er sagt: „Du willst die Zeichen des Himmels deuten, aber du kannst noch nicht mal die Zeichen der Zeit verstehen.“ Doch er macht auch deutlich, dass ein einzelner Pionier, der ausgetretene Pfade verlässt und neue Wege einschlägt, wenig ausrichten kann. Um einen echten und nachhaltigen Wandel herbeizuführen, brauche es immer auch von der Kirchlichen Norm Abweichende, die Autorität und Einfluss innerhalb der Strukturen hätten und jemanden ermächtigen können etwas zu tun und dessen Talente zu stärken. Jonny Baker verschweigt nicht, dass ein solcher Veränderungsprozess eine mitunter mühevolle Angelegenheit und ein schmerzhafter Prozess sei, schließlich gehe es darum, loszulassen und zu erkennen, dass einige Ressourcen aus der „Alten Welt“ in der „Neuen Welt“ nicht mehr nutzen. Auch gehe es darum, Dinge, die mit guten Ressourcen ausgestattet waren, hinter sich zu lassen, um Neues zu ermöglichen. Mit einem Augenzwinkern bringt er abschließend das Pioniersein auf den Punkt: „I have no idea where I’m going… Anyone care to join me?“
Ergänzt wird dieser Impulsvortrag durch einen Blick aus der Wirtschaft, wo Unternehmerin Anna Brandes ganz persönliche Einblicke gewährt. Lange Jahre im Bereich Projektmanagement und Marketing in der Tourismusbranche tätig, wächst das Bewusstsein, nicht in dieses System zu passen und sich wie abgeschnürt zu fühlen so sehr, dass sie privat und beruflich einen kompletten Neustart wagt und sich mit der WALDLICHTUNG, einer Kreativ-Schmiede, selbständig macht. Ihr Plädoyer an Unternehmen und Institutionen: Querdenker zu fördern, da diese unverzichtbare neue Impulse und Ideen einbringen.
Eine wichtige Problemanzeige, denn immer wieder ist im Rahmen der Seilschaften zu hören, dass Teilnehmer eine so große Fremdheit mit der institutionalisierten Kirche fühlen, dass sie „selber gegründet“, d.h. eine sogenannte „fresh expression“ ins Leben gerufen haben (neue kirchliche Ausdrucksformen, die sich seit den 1990er Jahren in der anglikanischen Kirche entwickelt haben und seit einigen Jahren auch die deutsche Kirchenlandschaft inspirieren).
„Jetzt müssen wir die Köpfe hochkrempeln. Und die Ärmel natürlich auch.“ (Lukas Podolski)
Kein Zweifel: Die Veranstaltungen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Das ZAP in Bochum bot eine perfekt organisierte Tagung auf sehr hohem inhaltlichem Niveau mit den aktuellen Forschungsergebnissen der wissenschaftlichen Mitarbeitenden in den gut ausgestatteten Räumlichkeiten der Ruhr-Universität, aufmerksamem Service und kulinarischer Rundum-Versorgung, einer Buch-Corner, die aktuelle wissenschaftliche Literatur zu den Tagungsthemen anbot, einer abendlichen Gala mit qualitativ hochwertigen Beiträgen, ob Musik, Poetry Slammer, Videobeiträge, … von dem sich ein (größtenteils katholisch geprägtes) Fachpublikum aus Hauptamtlichen und Funktionären hatte ansprechen lassen. Präsentiert wurden professionelle „Baukästen“ (Panels), die das entscheidende praktische Werkzeug für den notwendigen anstehenden Kirchenumbau enthalten.
Die W@nder-Konferenz in Hannover hatte eine buntere, jüngere, twitter-affinere, ökumenisch stärker durchmischte, alternativere Zielgruppe angesprochen, war experimenteller, basisorientierter, zielte mit den Barcamps stark darauf ab, aus den Teilnehmern Teilgeber zu machen, fokussierte eher das Gefühl der Fremdheit in der Kirche und des Nicht-Hineinpassens in das System als möglichen Motor für Veränderungen und wollte zum Pioniersein ermutigen. Das machte auch die ungewöhnliche und bewegende Sendungsliturgie in Form einer reell praktizierten Kneipp-Kur deutlich. Die alte Eisfabrik bot für diese Art von Konferenz einen perfekten, zusätzlich inspirierenden Rahmen.
So unterschiedlich aber auch die Vorstellungen und Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Kirche sind: entscheidend ist, nicht jenseits des Bauzauns stehen zu bleiben und verwundert auf die Baustelle zu schauen, sondern: Bauhelm schnappen und ab auf den Baukran, das Baugerüst oder an den Betonmischer. Hauptsache: mit Hand anlegen. Es gib genug zu tun - in allen Gewerken.
Carla Böhnstedt,
Pastoralreferentin für Citypastoral